Kinder brauchen Raum und Sie brauchen FreiRaum, um sich darin so bewegen zu können, wie es ihnen Freude macht

Copyright: Yasmin Moser Müller

In den letzten Jahren werden mir vermehrt Kinder vorgestellt mit der etwas undefinierbaren Diagnose „motorische Entwicklungsverzögerung“. Einige Kinder fallen offenbar bereits im Kleinkindalter auf durch vermehrte Stürze, viele blaue Flecken und vermehrt sichtbaren Pflaster. Oder sie vermeiden jegliche Bewegungsaktivität, möchten im Spiel mit anderen Kindern nicht mitmachen, wirken insgesamt sehr still.
 
Auffällig ist,  wie oft diese „Diagnose“ gestellt wird, wie rasch und wie früh.
 
Ein Kind mit einer solchen Diagnose-Ergänzung im Rahmen einer bestehenden diagnostizierten  Grunderkrankung soll und wird selbstverständlich therapeutisch begleitet, dies ist ein anderes Thema.
 
Ich möchte hier von anderen Kindern schreiben:
 
 Von Kindern, welche im besten Fall nach bereits wenigen Lektionen  als „wunderbar geheilt“ wieder in den Alltag entlassen werden können. Dann nenne ich dies:

„Die Behandlung einer „künstlich erworbenen   Entwicklungsstörung“

Was ist geschehen?

Für eine „anerzogene“ Entwicklungsverzögerung im motorischen oder sozialen Bereich gibt es sehr viele Ursachen. Nur einige davon möchte ich hier erwähnen:

  • Räume für Kinder, die schön eingerichtet sind, jedoch nicht kindgerecht
  • Räume für Kinder, jedoch keine Freiräume
  • Kinder in Buggys, Autositzen, Babyschalen, Hochsitzen usw..
  • Kinder ausschliesslich mit Flügeli und Ganzkörperanzügen im Wasser
  • Kinder mit schönen Kleidli im Erwachsenenstil
  • Kindergarten und Schulen mit vorgefertigten Förderzielen
  • Und vieles mehr…….

Wenn ihr Kind nicht dazugehört und es sich austoben darf auf eine Weise, dass ein Kratzer oder eine kaputte Hose nicht automatisch zu Entsetzen führt…. dann können Sie hier getrost aufhören zu lesen. Ich freue mich für Ihr Kind.

Und alle anderen Eltern bitte ich mir zu verzeihen – selbstverständlich steht die Sicherheit Ihres Kindes an oberster Stelle und ich propagiere keineswegs ein Kind ohne Autositze mitzunehmen oder keinerlei Schwimmhilfen mehr zu verwenden. Diese Massnahmen sind für eine gewisse Zeit oder in einer bestimmten Situation absolut notwendig.

Natürlich benötigen kleine Kinder auch Regeln und Grenzen, davon haben wir jedoch bereits mehr als genug. Wir leben in einer Zeit, in der vorgefertigte Spielplätze, Ausmalmandalas, Lego nach Anleitung sowie Frühförderkurse bereits ins Babyzimmer reichen.

Wenn wir jedoch bei kleinen Kindern von Lernen und Entwicklung sprechen, ist es wichtig zu  wissen, dass aus eigener Initiative ausgeführte Handlungen und Bewegungen eine wesentliche Rolle beim Lernen spielen sowie bei der Ausbildung des Körperschemas, der Entwicklung des Willens, der Ausdauer, beim Erlernen von Handlungsplanungen und dem Kennenlernen der Umwelt.

Im freien Spielen und Erforschen können Kinder sich als kompetent erleben. Wenn wir Erwachsenen dem Kind  nur vorgefertigte Spiele, Umgebungen und strikte Bewegungsrahmen anbieten, nehmen wir ihm die Möglichkeit, selbständig, nach eigener Initiative zu handeln und somit sich und die Welt besser kennenzulernen.

Copyright: Yasmin Moser Müller

Kindliche Bewegung bringt Raumerfahrung mit sich, d.h. die Orientierung im Raum. Damit wird auch die Orientierung in abstrakten Räumen und Strukturen wie etwa dem Zahlenstrahl oder dem Alphabet einfacher.

Der kindliche Umgang mit Gegenständen bringt Objekt- und Formerfahrungen mit sich. Damit wird auch der Umgang mit zweidimensionalen Objekten und Formen einfacher, zum Beispiel  wenn es um die Unterscheidung von ähnlichen Buchstaben wie b und d geht.

Mit Bewegungserfahrungen baut das Kind ein  Gefühl für die Zeit, für Geschwindigkeiten, für Abfolgen und für Rhythmus auf. Diese Erfahrungen nützen ihm beim Erwerb der Kulturtechniken: Sprechen und Zählen bestehen aus Rhythmus und Geschwindigkeit, Wörter sind Buchstabenfolgen.

Im forschenden und selbst handelnden Spiel mit geeigneten, also nicht bereits verbauten und vorgegebenen Materialien, lernt das Kind eigene Fragen zu stellen, seine Phantasie zu gebrauchen, Vermutungen anzustellen, Versuche zu machen, Misserfolge zu akzeptieren, Frustration auszuhalten und Probleme zu lösen. Es trainiert sein Erinnerungsvermögen und seine Handlungsplanung. Alle diese Anforderungen wird es im Schulalltag wieder antreffen

Copyright: Yasmin Moser Müller

Wenn wir nun den Kindern die Möglichkeit des selbständigen Entdeckens nehmen, sie vor jeglichen Stürzen, Schmutzflecken und eigenen, unkonventionellen Erfahrungen schützen möchten, so nehmen wir ihnen auch mit der Zeit den Entdeckergeist und wichtige Fähigkeiten, welche Sie für ihre Entwicklung –  vor allem auch der Bewegungsentwicklung – benötigen. Dies kann dann zu der oben beschriebenen „künstlich erworbenen Entwicklungsstörung“ führen.
 
Zum kindlichen Spiel sagt Dr. Armin Krenz (Dozent am „Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik“ Kiel)
 
Die Bedeutung des Spiels für die weitere Entwicklung von Kindern kann aus zweierlei Sichtweisen betrachtet werden: aus der Erwachsenensicht mit ihren dogmatischen Absichten und aus der Perspektive des Kindes und seinen Entwicklungswünschen und -möglichkeiten. So besteht heute kein Zweifel daran, dass das Spiel in der Entwicklung des Kindes eine ganz zentrale Stellung einnimmt.

Spiel ist damit keine Spielerei!

So genannte „Denk- und Lernspiele“ sind im eigentlichen Sinne keine Spiele. Hier handelt es sich vielmehr um „Lern- und Übungsformen“, die einerseits nur den kognitiven Bereich von Kindern trainieren sollen und damit andererseits nur bestimmte Teilfunktionen des Menschen ansprechen. Sie sollen Wissen vermitteln, kognitive Lernprozesse stimulieren und können ohne Schwierigkeiten bestimmten richtlinienorientierten Lernzielen zugeordnet werden. Jedem aufmerksamen Betrachter wird damit klar, dass bei diesen „Übungen“ ein „Spiele-Charakter“ nicht mehr zu erkennen ist. Daher kann an dieser Stelle auch nicht auf diese „Spielform“, die keine ist, eingegangen werden.
 
Vor allem Kleinkinder brauchen möglichst viel freien Entdeckungsraum, daher wünsche ich mir:

Freier Boden für alle Kinder!

Das heisst, in Situationen, in denen SIE die Kontrolle über den Raum und die Umgebung haben, z.B. in ihrem eigenen Heim, wäre es doch eine Idee sich Gedanken zu machen wie Ihr Kind seine natürliche Freude am Entdecken und Bewegen ohne Grenzen oder künstliche Haltesysteme ausleben kann.

Nehmen Sie also, wenn Ihnen dies sehr wichtig ist, etwas häufiger den Staubsauger raus, entfernen Sie scharfe oder zerbrechliche Gegenstände, und tun, was Sie noch entdecken tun zu müssen, um den Boden sicher für Ihr Kind zu machen.
Und dann lassen Sie ihr Kind das Gefühl von Freiheit und Bewegung geniessen, den der Boden zu bieten hat.

Ich glaube, Sie werden feststellen, der Boden ist der beste erste Spielplatz Ihres Kindes ….. wenn dann noch einige gute Ideen und ein toller Spielpartner zum Spielen dazu kommt, vielleicht sogar Sie selbst, ist dieser Spielplatz perfekt.

Wie so ein Bodenspielplatz gestaltet werden kann und welche Materialien dazu geeignet sind, zeige ich Ihnen gerne in meiner Praxis.

Was übrigens für gesunde Kinder gilt, ist noch viel wichtiger für Kinder mit Behinderungen:
Gerne möchte ich hierzu meine junge Freundin Sara zu Wort kommen lassen. Sie beschreibt auf ihrer Homepage: www.saraswelt.ch ihr Leben mit einer Behinderung. Auf Sara‘s Homepage finden Sie den ganzen Text und weitere tolle Projekte, mit denen sie als jugendliche Botschafterin auf die Bedürfnisse von behinderten Menschen aufmerksam macht:

Meine Bewegungsentwicklung war langsam und brauchte viel Unterstützung. Mit ca. 6 Monaten konnte ich in Bauchlage und Rückenlage rollen und rollte so durch die ganze Wohnung. Mit ca. jährig lernte ich von der Bauchlage in den Vierfüsslerstand zu kommen und von da ins Sitzen. Ich verlor anfangs oft das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Meine Mutter legte darum immer ein dickes Keil-Kissen hinter mich, damit ich weich fiel und mich wieder selber aufrappeln konnte. Dann lernte ich mich vom Vierfüsslerstand hoppelnd vorwärtszubewegen. Das machte ich jahrelang. Mit der Zeit konnte ich auch laufen, wenn jemand mir eine Hand gab. Als ich mit 7 Jahren erstmals eine Woche lang mit einem Skilehrer im Toggenburg immer wieder einen kleinen Hügel runterfuhr, hatte ich nachher sogar genug Gleichgewichtskontrolle, um selbständig gehen zu können. Ich gehe eben ataktisch, kann aber mittlerweile bis 1 km gehen, nachher sitze ich dann aber gerne in den Rollstuhl und erhole mich von der Anstrengung…

Unsere Wohnlage:
Zuerst wohnten wir in der Stadt in einer 3 Zimmerwohnung im 3.Stock mit Lift. Als ich 4 Jahre alt wurde, zogen wir in ein Bauernhaus in den 2.Stock, ohne Lift mit 3 herausfordernden Treppen bis in die Wohnung. Es gab Leute, die sagten: „Ihr spinnt, ihr braucht eine rollstuhlgängige Wohnung. Was tut ihr euch und eurer Tochter da an.“ Meine Eltern begleiteten mich rund 4 Jahre lang immer hoch und runter, seit langem bewältige ich sie nun locker selbständig, auch mit viel Gepäck. Auch der unebene Boden auf dem Bauernhof war eine Herausforderung für mich, nun schon lange aber kein Problem mehr für mich. Hier habe ich gelernt, mich den Schwierigkeiten zu stellen und zu üben, sie selbständig zu bewältigen. Ich bin sehr geübt im stürzen… zum Glück! Das kann ich immer wieder mal gebrauchen mit meiner Ataxie…!